Geburtsprozesse als Matrix für biografische Entwicklungsverläufe

Katrin Schindler-Weimer

Ganz schön in die Zange genommen

Erfahrungen von Geburtsprozessen als Matrix für biografische Entwicklungsverläufe

Von Katrin Schindler-Weimer

Geburt und Tod sind die beiden Tore, durch die wir alle gehen und die sich zugleich unserem bewussten Erinnern entziehen. Fühlen wir uns ein wenig ein, so spüren wir deutlich die Nadelöhr Situation, durch die wir uns als Menschen hindurchbewegen, um in das Neue, das noch Ungewisse zu kommen. Das ist beiden Ereignissen, Geburt und Tod, gemeinsam.

Die Geburt kann als unsere erste Krisensituation in diesem Leben gesehen werden. Das Kind kommt aus einer vertrauten Umgebung und bewegt sich in eine neue Situation hinein, die es noch nicht überblicken kann. Das ist eine Herausforderung!

Die Geburt haben wir nicht im Griff! Da wirken andere Kräfte. Kräfte, die wir bewusst nicht steuern können. Es geschieht, wie es geschieht. Es ist nicht unser Verdienst. Wir können uns nur mehr oder weniger in diesen gewaltigen Lebensstrom einfügen oder gegen ihn kämpfen.

Und gleichzeitig geschieht jede Geburt anders. Sie vollzieht sich zutiefst individuell. Jede Geburt hat ihre individuelle Dynamik und ihre individuelle Prägung. Deshalb ist es auch spannend sich diese Dynamiken näher anzuschauen. Vielleicht entdecken wir dabei Muster, die uns durch unser Leben begleiten – eine Matrix für Entwicklungsverläufe in unserer späteren Biographie.

Der eigentlichen Geburt geht eine Vorbereitungszeit – die Schwangerschaft- voraus, d.h. wir haben eine Zeit des Wachsens und des Reifens – einen Entwicklungsprozess, der dann unweigerlich in dem Ereignis der Geburt kulminiert. Die Situation wird sich zuspitzen. Da gibt es kein Entrinnen. Das „Neue“ wird geboren werden. Wenn es nicht geboren werden würde, könnten beide sterben. Hier geht es um Leben und Tod – eine existenzielle Situation für Mutter und Kind.
In den „Geburten unseres Lebens“, erleben wir diese bedrohliche Situation höchst selten. So abhängig und ausgeliefert sind wir üblicherweise nicht mehr. Daraus ergibt sich für uns ein größerer Handlungsspielraum und mehr Freiheit.

Idealerweise ist in der Zeit der Schwangerschaft für den heranwachsenden Embryo alles aufs Beste vorbereitet. Die Gebärmutterwand der Mutter baut sich schon in der Phase der Empfängnis so auf, dass sich die befruchtete Eizelle gut einnisten kann und darin geborgen ist. Es wird tatsächlich ein „Nest“ gebaut, das den Fötus vor zu starken Eindrücken bewahrt. Die Gebärmutterhülle schützt und puffert ab. Hier kann der Fötus wohl gedeihen. Gleichzeitig wird ihm fast alles abgenommen. Die Mutter atmet für ihn, sie ernährt ihn, er muss nicht verdauen, sie sorgt für seine Wärme und gibt ihm einen Rhythmus. Er schwimmt schwerelos im Fruchtwasser der Gebärmutter, vergleichbar mit einem Astronauten im Weltall. Es gibt kein Oben und kein Unten, kein Rechts und kein Links, kein Vorne und kein Hinten. Das Kind hat weder ein Zeit-, noch ein Raumerlebnis. Es lebt in völliger Symbiose mit der Mutter. Es muss nichts tun, nur sein, und …. es wächst!

Drumherum, als weitere Hülle, finden wir zusagen eine erweiterte „Gebärmutter“. Das sind Menschen, die diesen Prozess begleiten, Partner, Familie und Freunde, und Gegebenheiten, die wir zu dieser Zeit in unserer Umgebung vorfinden.
Erst nach einiger Zeit, wenn der Fötus so herangewachsen ist, dass er an die Gebärmutterwand anstößt, verändert sich seine Eigenwahrnehmung. Das Kind bekommt ein erstes Erlebnis von Begrenzung. Eine leise Wahrnehmung seines Selbst.
Zum Ende der Schwangerschaft verknappen sich die räumlichen Bedingungen so stark, dass es zu einem Impuls kommt, sich aus dieser beengten Räumlichkeit herausbewegen zu wollen. Über eine intime Kommunikation zwischen Mutter und Kind wird der Zeitpunkt der Geburt hormonell „ausgehandelt“. Im besten Fall finden sie zusammen den richtigen Zeitpunkt und gehen in ihrem gemeinsamen Tempo durch diesen Prozess. „Er führt das Kind in die Nähe des Todes und die Mutter an den Rand dessen, was sie ertragen und leisten kann“ (Dr. Georg Soldner, individuelle Pädiatrie) Die Geburtshelferin, die Hebamme steht ihnen bei. „Sie hilft das Verborgene ins Sichtbare zu bringen. Sie weiß um die Kraft des richtigen Zeitpunkts. Sie weiß, etwas muss reif sein um geboren zu werden. Sie kann darauf warten, aber dann auch entschieden handeln. (Herta Schindler, Archetypenkreis der Frau)

Mit einer schraubenartigen Bewegung wringt sich das Kind spiralartig durch den schmalen Geburtskanal hindurch. Durch eigenes Drehen und Mitbewegen und durch die Kraft der Wehen durchgeschoben, bewegt es sich durch diese Enge. Mutter und Kind arbeiten miteinander, damit das Kind geboren werden kann. Der Körper wird auf extremste Art gestaucht. Dadurch entsteht ein deutliches Gefühl für den Körper und dessen Grenzen.
Mit dem Abnabeln wird das Kind augenblicklich körperlich selbständig. Es atmet, verdaut, isst und bildet seine eigene Wärme. Sein erstes Autonomieerlebnis! Es hat sich in die irdischen Verhältnisse begeben, in der Schwerkraft und damit verbunden, die spannungsreiche Polarität der Dimensionen wirkt. Jetzt gibt es ein Oben/unten, ein Vorne/Hinten und ein Seite/Seite. Es ist auf der Welt! Nun spielt das Leben und die erweiterte Umgebung unmittelbar und ungefiltert mit.

Können diese Prozesse auch als Sinnbild für biographische Entwicklungsprozesse in unserem Leben gesehen werden?

In jedem Entwicklungsprozess gibt es eine Zeit der Vorbereitung in der die neue Entwicklung heranreift. Hier ist Schutz und Ruhe nötig um die Zartheit des Entstehenden vor störenden Einflüssen zu bewahren. Man muss sich auf das Wesentliche konzentrieren können, nämlich aufs Wachsen und Entwickeln des Neuen. Und – ist die Idee erst mal geboren – so kann man davon ausgehen, dass sie aus ihrem Eigenpotential heraus, wie von alleine wachsen wird – in ihrem Tempo in die Zukunft hinein.
Eventuell braucht es Geburtshelfer für diesen Prozess. Das können Schützer, Berater und Unterstützer sein. Nach einiger Zeit erleben wir eine Verdichtungsphase in der sich das Neue immer klarer ausgestaltet. Die Konturen werden deutlich. Wenn die Zeit reif ist, entstehen Wehen. Es ist Geburtsarbeit nötig, damit das Neue das Licht der Welt erblicken kann – eine Nadelöhr- Situation, durch die sich das Neue „ver-wirklicht“.

Manchmal hört man: „Das war jetzt echt ne schwere Geburt“, wenn neue Dinge ins Leben gebracht wurden. Eingebettet ist der ganze Prozess in äußere Bedingungen, die ebenfalls wirksam sind – unterstützend oder auch störend.

Dass diese „Geburts“-Prozesse eine sehr individuelle Ausprägung haben können, fiel mir das erste Mal bei einem Patienten auf, der seit Jahren im Begriff war sich selbständig machen zu wollen. Er war schon lange Zeit unzufrieden mit seiner beruflichen Situation gewesen. Seine Entscheidung war aber so lange noch nicht reif, bis er in eine Situation kam, in der es ihm beruflich so eng wurde, dass er gar nicht mehr anders konnte, als zu gehen. Ich sagte damals zu ihm: “Die haben Sie ganz schön in die Zange genommen“. Und er warf flapsig zurück: „Ich war ja auch eine Zangengeburt“. An diesem Punkt wurde ich tatsächlich hellhörig. Es schien so, dass es ihm nicht möglich war aus eigener Kraft diese Entscheidung zu treffen. Er brauchte einen starken Impuls von außen, damit er seine Idee verwirklichen konnte.

Liegt ein Geheimnis des „Geburtsprozesses“ darín, dass er unbewusst ablaufen muss, damit wir die Potenz seiner vollständigen Dynamik spüren? Ist es wichtig, dass wir erleben, wie uns das Leben durchschüttelt ohne eingreifen zu können, damit etwas ganz Neues überhaupt geboren werden kann, das sich unseren bewussten Vorstellungen entzieht?

Es macht Sinn, sich die Dynamiken und die Bedingungen unserer Geburt achtsam anzuschauen und mit im Hinterkopf zu behalten, wenn wir schwierige Situationen zu bestehen haben. Der bewusstere Blick kann uns dazu verhelfen im Nachhinein zu verstehen, wie wir in solchen Situationen „ticken“, welche Strategien wir zur Verfügung haben, um die jetzigen Geburtsprozesse unseres Lebens zu unterstützen oder es vielleicht auch dieses Mal anders machen zu können? Möglicherweise gelingt es uns auch, etwas freundlicher auf unsere Prozesse zu schauen und mehr Mitgefühl für uns in schwierigen Situationen zu entwickeln.

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Hilfreiche Fragen

  • Wie hat sich die Geburt angekündigt?
  • Zögerlich oder mit einem Paukenschlag?
  • Welche Stimmung war im Raum?
  • Wie war die Dynamik?
  • Ging alles ganz schnell (Sturzgeburt)?
  • War es hektisch und aufgeregt drumherum, oder hat sich der Prozess langsam aufgebaut und stetig entwickelt?
  • Gelang es aus eigener Kraft oder hat es Unterstützung von außen gebraucht? (Geburtseinleitung, Kaiserschnitt, Geburten mit Hilfsmittel: Zange, Saugglocke)
  • Wer war dabei?
  • Haben alle beim Pressen mitgeholfen?
  • Wie war die Empfangssituation?
  • Waren die Eltern bereit oder überrascht?
  • War das Zimmer warm oder kalt?
  • Was war am Tag oder in der Zeit meiner Geburt zuhause los und was war in der Welt los?
  • In welche gesellschaftlichen Bedingungen bin ich hineingeboren?